Auf Rügen: Wo liegt denn nun Störtebekers Schatz?
21.07.2020 11:41
"Und hier drüben soll die Piratenschlucht von Klaus Störtebeker gewesen sein - den Legenden nach könnte da irgendwo noch ein Schatz von ihm vergraben sein." Ich horche auf: Ein Schatz - Gold, Silber, Juwelen? Hier noch vergraben? Doch kaum tagträume ich davon, triumphierend einen Piratenschatz zu bergen, fährt der Kapitän fort: "Möglicherweise fällt er demnächst aber auch jemandem auf den Kopf, der zufällig gerade unten am Strand vorbeispaziert." Der Kapitän des Schiffes, mit dem ich gerade von Sassnitz aus eine Tour entlang der berühmten Kreidefelsen von Rügen mache, ist redselig - und gerät bei diesem Thema etwas in Rage. Immer wieder brechen Teile der hohen Felswand ab und fallen in die Ostsee - wer zu diesem Zeitpunkt dort entlang läuft, hat Glück, wenn er mit dem Leben davonkommt.
Der Kapitän des Schiffs geht in diesem Zuge hart mit der Verwaltung des Nationalparks Jasmund ins Gericht: Es werde zu wenig getan, um die Kreidefelsen zu erhalten. Erosion, Klimawandel, ein höherer Meeresspiegel und hohes Grundwasser setzen den weißen Felsen zu. "Natürlich bröckelt es hier schon immer", poltert der Kapitän weiter. "Aber anstatt das aktiv zu verhindern, bauen die ein teures Zentrum auf den Königsstuhl, um Heerscharen von Touristen anzulocken." Er warnt davor, am Strand unterhalb der Felsen entlang zu wandern - erst jüngst habe er wieder einen Abbruch erlebt. Und auch einige Häuser im Norden von Sassnitz stünden leer - eben weil die Abbruchkanten immer näher rücken. Warnungen gibt es viele - und ebenso viele Menschen, denen das egal ist. Sie suchen vielleicht nicht den Störtebeker-Schatz, aber Erholung und Spaß im Sand und der Landschaft.
Denn schließlich sind die Kreidefelsen ein faszinierendes und anlockendes Stück Natur. Hinter frischen Abbrüchen schimmern sie in strahlendem Weiß, nach ein paar Jahren oder Jahrzehnten werden sie durch Wind, Wasser und Witterung bräunlich. Irgendwann natürlich, in ferner Zukunft, werden die ganzen Felsen verschwunden sein - doch wie ein Mitarbeiter des Nationalparks einmal gegenüber der Ostsee-Zeitung sagte, wird dies noch etwa 10.000 Jahre dauern. Ich beschließe trotzdem, weder unten am Strand entlang zu laufen, noch das touristische Zentrum auf dem Königsstuhl zu besichtigen. Den Nationalpark Jasmund aber, in dem der Königsstuhl liegt, werde ich durchwandern - selbst wenn die Hoffnung auf einen großen Schatzfund gering ist.
Legenden ranken sich viele um den Piraten Klaus Störtebeker. Im 14. Jahrhundert soll der Seeräuber gelebt und sein Unwesen mit den Vitalienbrüdern in Nord- und Ostsee getrieben haben, bis er bei Helgoland gefangen und in Hamburg geköpft wurde. Kopflos soll er noch an einigen Mitstreitern (für deren versprochene Freilassung) vorbeigelaufen sein, bis der Henker ihm ein Bein stellte. Von seinen Reichtümern gibt es viele Geschichten - unter anderem soll der Segelmast seines Schiffs mit erbeutetem Gold ausgefüllt worden sein. Und nun soll also hier bei den Rügener Kreidefelsen noch ein Schatz von ihm verbuddelt sein.
Doch natürlich bin ich nicht der erste, der danach sucht. Es wird einem jedenfalls nicht einfach gemacht, hier einen Schatz zu finden - wie eine winzige Nadel in einem riesigen Heuhaufen. Der Nationalpark Jasmund ist über 3000 Hektar groß und voll mit Buchen, mit Mooren und Wiesen. Nur eine breite Straße führt hinein, die darf aber nur mit entsprechender Berechtigung befahren werden. Da bleibt mir nur der Fußweg, der vom Großparkplatz kreuz und quer durch den Wald bis zum Besucherzentrum am Königsstuhl und der Aussicht auf die Kreidefelsen führt. Durch die dichten Buchen zwängen sich die Sonnenstrahlen nur mühselig hindurch. Die Wege hier ohne Navi oder Kompass zu verlassen, ist keine gute Idee. Denn durch den recht dichten Baumbewuchs muss man schon einen sehr guten Orientierungssinn haben, um sich nicht zu verirren. Die Überreste der Herthaburg auf halbem Weg gleichen einem baumbewachsenen Hügel, der dahinterliegende See ist so romantisch, wie es kaum besser geht. Jedenfalls solange, bis man die Geschichten dahinter kennt: Denn zumindest einer Sage nach wurden jedes Jahr hier ein Jüngling und eine Jungfrau der Göttin Hertha zu Ehren im See ertränkt. Vielleicht liegt ja auch der Störtebeker-Schatz verborgen im See, irgendwo zwischen den Überresten der Geopferten. Oder doch am Meer, wie es eine andere Legende andeutet.
Nach gut 3,5 Kilometern Fußmarsch erreiche ich die Küste und blicke von der Viktoriasicht hinab, an den Fuß des Königsstuhls. Ganz unten im Wasser ragt der Waschstein heraus, ein Findling, der ebenfalls seinen Weg in diverse Sagen gefunden hat. Wer hier bei Tagesanbruch eine verschwunschene Prinzessin (oder Jungfrau, die von Störtebeker gekidnappt wurde) beim Waschen von Kleidern sieht, sollte sich sputen und sie mit "Gott helf" (oder "Gott möge helfen") ansprechen - dann ist sie von der Verzauberung erlöst und führt den Retter zum Dank in eine Schatzhöhle. Wer dort den Geistern der enthaupteten Störtebeker-Piraten erfolgreich aus dem Weg geht, kann sich einen Teil des Schatzes mitnehmen. Gut, ich bin nachmittags hier, da hat sich die Prinzessin längst verzogen und kann mich auch so nicht zum sagenhaften Hort führen. Hätte ich mich vielleicht sputen müssen.
Für mich steht fest: Hier an der Kreideküste einen Schatz zu finden, ist entweder Glückssache oder eine jahrelange Sisyphusarbeit. Im besten Fall vergebliche Liebesmüh - wenn alles nur Lug und Trug und Ammenmärchen ist. Ich genieße noch die Aussicht hier auf den Kreidefelsen und trete dann den langen Rückweg durch den Buchenhain an. Erst im Supermarkt stolpere ich dann auf den am einfachsten erreichbaren Schatz Störtebekers: eine Kiste Bier von der gleichnamigen Brauerei [nein, dies ist keine Werbung ;-)]. Manchmal muss man sich eben mit den kleinen Schätzen zufrieden geben.
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