Ich stehe am See Genezareth in Israel, meine Sandalen machen glucksende Geräusche im Schlick des Ufers. Rechts von mir sehe ich die Stadt Tiberias, links sind Tabgha und noch ein Stück von Kapernaum zu sehen. Gegenüber verschwimmen die Golanhöhen im Dunst. Einige Boote schippern auf dem See, eine Handvoll junger Menschen hat sich ein paar Meter entfernt von mir ins recht kühle Wasser gewagt, sie spritzen sich johlend gegenseitig nass. Die Sonne steht schon recht tief hinter meinem Rücken und wirft lange Schatten. Ich grübele darüber nach, wie es hier vor knapp 2000 Jahren gewesen sein könnte.
Kapernaum, die Bergpredigt, die Apostel, der See Genezareth – das Kopfkino springt bei diesen Begriffen an. Die Bibel, das Neue Testament und natürlich Jesus. Schon als Kind hört man diese ganzen Worte und stellte sich irgendwie magische Orte im Nahen Osten vor, deren Bewohner die Geschichte dieser Welt geprägt haben. Wo Wunder geschahen und der kleine Jesus zum Sohn Gottes, zum Messias und zu einer Hoffnungsfigur für Milliarden Menschen wurde. Geboren in einem einfachen Stall, in einer Region voller Lehmhütten, Schafhirten und dazwischen ein paar Römer. Ben Hur, Die Zehn Gebote, Das Leben des Brian - solche Filme haben meine Vorstellung von Israel geprägt.
Und jetzt stehe ich hier, am See Genezareth, und blicke auf Busscharen voller Touristen, Pilger, Neugieriger und Historiker. Der christliche Glaube und die historischen Orte sind hier zu einer Gelddruckmaschine geworden, überall gibt es Nippes, Postkarten, Ikonen und Kreuze. Kirchen sind auf Grundstücken gebaut worden, denen man die biblischen Ereignisse zuschreibt. „Aber ob jetzt hier wirklich Petrus gewohnt hat, kann keiner mehr sagen“, höre ich meinen Guide in Kapernaum erzählen. War das die Synagoge, die Jesus einst besuchte? „Nein, die heute noch sichtbaren Ruinen wurden im 3. oder 4. Jahrhundert errichtet." Der Ort der Bergpredigt? „Ja könnte hier gewesen sein.“ Zumindest haben findige Gläubige schon mal ein Kloster und eine Kirche an den fraglichen Hang hingebaut. Dasselbe höre ich bei den anderen Sehenswürdigkeiten. Wurde am Ort der großen Kathedrale in Nazareth wirklich die Schwangerschaft von Maria durch den Engel verkündet? Who knows... Könnte ja auch ein paar hundert Meter weiter in die andere Richtung gewesen sein.
Es gibt eine Stelle am See Genezareth, wo sie vor einigen Jahren ein altes Schiffswrack aus dem 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung gefunden haben. Heute sind die Überreste im Kibbuz Ginnossar zu sehen - und das bröckelnde Gerippe wird mitunter als „Jesusboot" bezeichnet. Vermutlich hat Jesus das Ding nie betreten, höchstens mal gesehen - trotzdem pilgern die Leute hierher und denken, damit ging Jesus schippern, wenn er nicht gerade in seinen Sandalen über den See gelatscht ist. Einige Nachbauten des Bootes laden jetzt auf dem langsam schrumpfenden See Genezareth zu kurzen Touristenfahrten ein. Jesus fordert die beiden Fischer Petrus und Andreas in der Bibel auf: „Folgt mir nach und ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ (Matthäus 4:19). Na klar, sie haben danach viele Menschen „gefischt" und zum christlichen Glauben gebracht. Heute wird nun den Touristen und Pilgern das Geld aus der Tasche gefischt, für das Gefühl, Jesus und seinen Aposteln irgendwie näher zu kommen.
Alles ist Glaubenssache. Darauf läuft es doch hinaus. Wer nicht daran glaubt, dass Jesus überhaupt existiert hat, der wird sich hier wie in Disneyland fühlen. Möglich ist nur eine gedankliche Annäherung an das, was vor knapp 2000 Jahren hier passiert sein mag. Es gibt keine Inschrift an irgendwelchen Ruinen, die bezeugen, dass Jesus an genau diesem Ort war. Natürlich ist es gut möglich, dass Jesus und seine Apostel sich wenige Meter von mir entfernt getroffen haben, um die Welt zu verändern. Heute kann das aber keiner mehr beweisen. Dass sich heute so viele Menschen auf den Weg hierher nach Israel machen, zeigt nur, dass die Faszination, die von der Bibel ausgeht, nach wie vor riesig ist - und Glaube und Hoffnung offenbar auch.
Die Sonne verschwindet hinter mit, Himmel und Wasser werden dunkler und ich laufe vom Schlick wieder ans befestigte Ufer. Mit dem Bus fahre ich weiter nach Tiberias in meinen riesigen Hotelbunker, dessen Glanzzeit schon länger zurück liegt. Die Lobby ist gerade voller Spanier, Italiener und Südkoreaner - eine riesige Menge gläubiger Menschen. Ich gehe auf mein Zimmer, genieße die Ruhe und schaue noch kurz vom Balkon auf den nun in der Dunkelheit verschwindenden See. Menschenfischer sehe ich keine. Und übers Wasser läuft auch niemand mehr.
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