Eine penetrant stinkende Brühe ist das Zeugs, in dem die Männer stehen. Sie befinden sich in dutzenden rund gemauerten Löchern, teils gekachelt, in unterschiedlichen Größen, Höhen und Weiten. Barfuß trampeln sie auf dem darin befindlichen Leder herum, erst wird es gegerbt, dann getrocknet und schließlich gefärbt. Fleisch- und Fellreste müssen schließlich weg. Es stinkt nach Exkrementen und Verwesung. Natürlich wird betont, dass hier im Gerberviertel von Fès nur traditionelle Methoden angewandt werden, keine moderne Chemie, wie im Rest der Welt. Den Jungs faulen also nicht schon nach einem Tag die Füße ab, sondern erst in zehn Jahren oder so. Manche arbeiten mit Handschuhen und Gummistiefeln, andere mit den bloßen Händen. Die Gerbstoffe sollen aus Baumrinden stammen, die Farbe aus Pflanzen und Mineralien, ein Kalkbad gibt es auch noch vorneweg. Und leicht ätzender Taubenkot soll die Häute zusätzlich weich werden lassen, die Haarreste können besser entfernt werden. Die Temperaturen liegen bei knapp 40 Grad. Stundenlang werden die Häute gestampft, geknetet, ein Knochenjob.
Jeder Tourist bekommt im Geschäft mit dem Aussichtsbalkon auf die Gerberlöcher ein bisschen Indigo vor das Gesicht gehalten - ein kleines bisschen davon in die Wäsche und sie wird weiß, etwas mehr und alles wird blau. Safran und Mohn werden ebenfalls als natürliche Farbstoffe eingesetzt. Der Gestank zieht ein wenig zu uns herüber - wie abgestandener Urin brennt es in den Schleimhäuten. Da hilft auch das Pfefferminzblättchen nicht, das man fürs Näschen anbietet. Dutzende Tierhäute liegen herum, einige weiß, andere gelb, andere braun. Schafe, Ziegen, Esel, Kamele und Rinder aus der Region. Der innere Teil endet beim Metzger und dann als Abendessen, die Haut wird ein Schuh, ein Sitzkissen, ein Gürtel oder eine Handtasche. Praktischerweise bieten die ganzen Geschäfte hier in den Gassen ebensolche Kleidungsstücke und Accessoires an, Feilschen erwünscht. Handeln ist Trumpf. Wer den vom Händler zuerst genannten Preis zahlt, ist selbst dran schuld. Den Stil der Mode allerdings wird man zumeist vergeblich auf den Laufstegen dieser Welt finden.
Im Souk der labyrinthartigen Medina von Fès sind die Lederwaren Teil des bunten Farbspektakels in den Auslagen, neben Teppichen, Gewürzen, Wasserpfeifen und ziselierten Dolchen. Kupferschmiede, Zedernholzschnitzer, Glasbläser, Babuschennäher und viele andere Kunsthandwerker hocken in ihren kleinen Ateliers an den Gassen und produzieren ihre Waren. Einheimische und Touristen brüllen, weinen, lachen und flehen hier. Wer ist der bessere Schauspieler beim Feilschen? Wer kann den anderen von seinen Argumenten besser überzeugen? Wer erzählt von den meisten Kindern, die ohne einen anständigen Preis verhungern würden? Kein Verkäufer hier macht je ein schlechtes Geschäft - nur sein Gewinn fällt von Kunde zu Kunde unterschiedlich aus. Der Preis ist ein unbekanntes Rätsel, scheinbar weiß auch der Händler diesen erst, wenn er dem Kunden die Hand drückt, oder wenn er nach der Uhrzeit geschaut hat. Und manchmal muss ich unweigerlich an "Das Leben des Brian" denken, wo wenig fachgerecht über eine Kalebasse verhandelt wird.
Der Esel ist das beste Fortbewegungs- und Transportmittel in den engen Gassen des Unesco-Weltkulturerbes, in denen sie aber auch nicht an jeder Ecke erlaubt sind, zwischen Läden, Wohnhäusern und Koranschulen. Handkarren sind der beste Lieferwagen. Nostalgie lebt auf: Im Chaos zwischen Datteln und Oliven, Holz und Teppichen, Gebäck und Schafsköpfen, wird Jahrhunderte alte Tradition merkbar. Fès ist irgendwie nicht ganz so künstlich aufgeblasen schön wie Marrakesch. Es ist dreckiger, lauter, urtümlicher - und auch größer. Der Souk von Fès soll der größte in Marokko sein.
Ein Gedanke allerdings bleibt: Bei so vielen Touristen, die hier jeden Tag herkommen, sollte nicht gemauschelt werden. Aber bei den ganzen Massen an Lederwaren hier in Fès stelle ich mir dennoch die Frage, ob die entsprechend als "biologisch" angepriesenen Tierhäute wirklich vor Ort mit traditionellen Mitteln gegerbt wurden. Denn wie ich im Nachhinein erfahre: Von den über 50 größeren Gerbereien in Fès arbeitet nur noch eine Handvoll auf biologische Art, selbst hier verwenden die meisten mittlerweile Chemikalien. Und auch der Lederimport aus China soll florieren.
Eine Ungewissheit, die im Raum stehen bleibt. Aber ich kaufe hier nichts, will nur die Atmosphäre erleben, keinen Streit vom Zaun brechen. Da schaue ich lieber einem Esel hinterher, der mehrere Kilo Leder auf seinem Rücken durch die engen Gassen trägt, sich nicht von Touristen in seinem Weg beirren lässt und scheinbar ohne Führer sein Ziel findet. Denn die Stimmung zumindest ist in Fès authentisch.
Besucht im Jahr 2004.
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