Es ist eine dieser unwirklichen Situationen: Du stehst auf der Osterinsel, im südöstlichen Eck bei Tongariki, und 15 riesige Moai starren dich an. Diese riesigen Steinköpfe, die du bislang nur aus dem Fernsehen oder sonstwelchen Medien kennst. Hier sieht du sie direkt mit eigenen Augen, bis zu 14 Meter hoch, teilweise über 80 Tonnen schwer, schön mit dem Meer hintendran. Mit riesigen und topmodernen Gerätschaften wurden sie in den 1990ern wieder aufgestellt, nachdem sie in diversen Stammeskriegen im 17. Jahrhundert umgeworfen wurden. Zuvor hatten sie gut 900 Jahre gestanden, so genau weiß man das nicht - nun sind sie ewige Zeugnisse einer beeindruckenden Kultur und großer menschlicher Leistung. Natürlich fragst du dich, wie sie errichtet wurden, für was genau sie stehen und warum überhaupt so ein Aufwand für diese Steinköpfe betrieben wurde. Aber so wirklich wichtig sind die Antworten dazu nicht. Ich weiß ja schließlich, dass ich die üblichen Theorien dazu irgendwo nachlesen kann, falls sie mir nicht schon vorher von einem dahergelaufenen Guide erzählt werden. Ich warte lieber ab, ich starre erstmal zurück auf die Moai. Ich lasse mich faszinieren.
Faszinieren von der Einsamkeit dieser Insel - wo um dich herum nur Wasser ist, tausende Kilometer weit. Im Westen leben die nächsten Menschen über 2000 Kilometer entfernt auf der Insel Pitcairn, nach Osten, bis zu Chiles Küste, sind es über 3500 Kilometer. Dazwischen ist nur Wasser - Wellen, Wind, Gischt, Fische. Wer Einsamkeit sucht, kann hier fündig werden - auch wenn mittlerweile täglich ein bis zwei Flugzeuge landen. Stehst du auf dem höchsten Berg der Insel, siehst du bis zum Horizont auf allen Seiten nichts als Wasser und Wolken. Zugleich fühlt man sich so, als stünde man auf dem höchsten Punkt der Welt, denn die Erdkrümmung ist rings um dich herum zu erahnen. Einsamkeit gibt es zur Genüge bei den weniger besuchten Moai-Figuren, etwa am Hanga Kioe. Nur er, ich, der Wind, das Meer und der Himmel. Würde ich meditieren, könnte ich mit Sicherheit irgendwann seine Stimme hören. Macht Einsamkeit verrückt, frage ich mich im selben Moment.
Faszinierend sind auch die Menschen, die hier leben - 6000 sollen es sein, davon nur noch die Hälfte Rapa Nui, also Nachkömmlinge der "Ureinwohner". Natürlich haben die meisten von ihnen heute irgendwas mit Tourismus zu tun, sei es in den immer mehr werdenden Hotels und Restaurants, als Guide oder als Fischer. Als ich am Hafen von Hanga Roa gerade die Surfer auf den Wellen draußen beobachte, krabbelt ein älterer Herr die Felsen hoch, ein dünnes Netz in der rauen Hand. Braungebrannt ist er, längere graue Haare - und ob seine Augen vom Meerwasser oder von Drogen so rot sind, kann ich nicht feststellen. Auf jeden Fall sieht er mich, nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Bierdose und fängt blitzartig mit einem Sermon über die Vor- und Nachteile der ganzen Touristen an, schweift über zur Rapa-Nui- und Vogelmann-Kultur seiner Vorfahren und lädt dann noch ein, bei seinem Bruder um die Ecke den gerade gefangenen Fisch zu probieren. Ich befürchte schon, eine Absage würde seinen immerwährenden Zorn auf mich ziehen, doch er zuckt dann nur mit der Schulter, trinkt einen weiteren Schluck Bier und wendet sich direkt anderen Flaneuren zu, die wohl genauso wie ich nur einen kurzen Blick auf das Meer und die Surfer werfen wollten. Nur wenige Schritte weiter, an der Ecke zum Rugby-Platz, weht mir der Duft von Marihuana in die Nase - eine Gruppe Jugendlicher raucht das Zeugs auf offener Straße.
Am Vulkankegel Rano Raraku wartet das nächste faszinierende Erlebnis - denn hier wurden dereinst die ganzen Moai-Köpfe aus dem Felsen gehauen. Etwa 400 unfertige, kaputte oder sonstwie nicht ganz perfekte Skulpturen liegen und stehen am Hang herum. Dabei erinnern sie an einen Mischmasch aus einem Gräberfeld und einer explodierten Bowlingbahn. Die unterschiedlichsten Figuren lassen erahnen, was hier einst für ein handwerklicher Aufwand betrieben wurde. Fließbandarbeit, Schweiß und Blut, jahrhundertelang. Die verschiedensten Formen an Köpfen sind hier zu sehen, schmal mit langen Nasen, gedrungen mit breiter Nase, sogar einen Moai-Kopf mit Bart gibt es hier. Wer sich daran nicht sattsehen kann, findet in den Shops nahe des Eingang weitere hunderte Köpfe in allen Formen, Farben und Materialien. Exportschlager Nummer Eins sind die Mini-Moai aus porösem Vulkangestein - vermutlich kommt kein Besucher der Insel ohne einen davon nach Hause.
Fasziniert schwimme ich an einem Nachmittag in der Bucht von Anakena - dem kleinen Südseeparadies an der Nordküste der Osterinsel. Heller Sandstrand, hohe Palmen, klares Wasser, chillige Lounges und natürlich auch einige Moai stehen hier. Es ist das einzige Mal, dass ich während meiner fast vierwöchigen Reise durch das riesige Chile die Badehose anziehe. Und dann gleich an so einem magischen Ort - denn hier soll der Gründervater der Osterinsel einst gelandet sein, der Ausgangspunkt der Rapa-Nui-Kultur also. Jetzt laufen hier ein paar braungebrannte Badenixen herum, einige Touristen machen Selfies, andere fotografieren die Moai oder dümpeln im flachen Wasser. Das hellblaue Nass ist erfrischend, der Strand fällt kaum merklich ab, so dass man dutzende Meter waten kann, ohne mit der Brust ins Wasser zu kommen. Es muss ein wahnsinniges Gefühl sein, wochenlang über das einsame Meer zu schippern, und dann an so einem paradiesischen Ort anzukommen.
Drei volle Tage habe ich auf der Osterinsel, drei Abende schaue ich mir hintereinander den Sonnenuntergang am Ahu Tahai an, am nördlichen Ende der einzigen Stadt Hanga Roa. Die sieben Moai hier direkt an der Küste bieten einen grandiosen Vordergrund für die sinkende Sonne - was leider auch viele andere Besucher wissen. Wie in einer bekifften Hippie-Kommune sitzen hier alle verträumt auf dem Rasen und blinzeln zwischen den Steinköpfen hindurch auf den orangefarbenen Feuerball, der mit den Wolken um die beste Position kämpft. Je nach Wetterlage ziehen andere Muster herauf, mit stetig neuen Farben - fast ins kolossal Kitschige abdriftend. Die Osterinsel strahlt eine ganz eigentümliche Atmosphäre aus, fern von allem, doch irgendwie im Zentrum. Die Moai vermitteln eine uralte Erhabenheit, als schweigende Hirten eines fast verschwundenen Volkes. Und je mehr Sonnenauf- und -untergänge sie in ihrer steinernen Ruhe sehen, desto merkwürdiger und geheimnisvoller wirken sie in dieser Zeit des immer rasenderen Wandels.
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