Im Zeltlager - Wenn Jugenderinnerungen wieder Realität werden
05.09.2014 13:28Es ist wie Heimkommen. Allein der Anblick des dürren hohen Holzkreuzes mit den beiden geneigten Fahnenmasten auf der Wiese genügt, um das Zeltlager-Gefühl aufsteigen zu lassen. Ein Gefühl von Abenteuer, vom direkten Kontakt mit der Natur, von Lagerfeuerromantik und kalten sternenklaren Nächten. Von Spinnen und Käfern, von regennassen Schuhen und rauchgeschwängerten Pullis. Von dick geschmierten Broten, Griesbrei mit U-Booten und Spülwasserschlachten.
Hinter dem Kreuz steht die uralte schwere Glocke, die wir seit unzähligen Generationen mitnehmen und die auf einem selbst gezimmerten Holzgerüst ruht. Allein der eindringliche Klang von ihr, der mehrfach am Tag ertönt, hallt einem selbst Wochen später noch durch den Kopf. Vor dem Kreuz ein Biertisch mit Getränketöpfen darauf, aus denen der Instant-Eistee in Becher und Feldflaschen gezapft wird. Ein leicht käsiger Geruch darf nicht fehlen - von abgestandenen Kakaotropfen, die beim Frühstück fahrlässigerweise auf die Wiese gefallen sind. Hinter der Lagerrunde (also mehreren Baumstämmen zum Draufsitzen) stehen die Mannschaftszelte. In ihnen liegt der stickige Muff in der Luft, von Jungs, die tagelang dieselben Klamotten tragen, weil sie in ihrer von Mutti gepackten Reisetasche nicht durchblicken, und die dann beim Waschen gerne ihre Seife vergessen. Aber es ist ja Zeltlager - wenn alle müffeln, dann fällt keiner deswegen auf.
Seit über 20 Jahren fasziniert mich das Zeltlager des CVJM Nierstein, erst als junger Teilnehmer, ein paar Jahre später als Mitarbeiter, dann als Lagerleiter und schließlich als "Veteran", der nur mal für ein paar Tage zu Besuch kommt. Denn im Zeltlager, das in jedem Jahr auf einem anderen Platz stattfindet, bleibt auf gewisse Art die Zeit stehen. Das Duschwasser ist eiskalt, zumeist gibt es keinen Strom, gekocht wird mit Gas. Für Handys und Hightech gibt es keinen Raum. Kein Computer lenkt einen ab, kein Fernsehen regt einen auf, Nachrichten dringen nur spärlich durch. Das Programm ist, soweit ich mich zurück erinnern kann, immer ähnlich: Es gibt die Olympiade, Indiaca-Turniere, Wanderungen, Bibelarbeiten, Raufereien und Lagerfeuerabende. Auch die Lieder wurden schon hundertmal gesungen - von Sandyland über Bolle bis zu "Wir lagen vor Madagaskar". Das Zeltlager ist eine jährliche Konstanz im sich immer schneller drehenden Alltag. Eine Konstanz, die Entschleunigung bedeutet, mit Zeit für Erholung. Einfach mal die Seele baumeln lassen. Es heißt immer, Kinder können heute keine Kinder mehr sein. Im Zeltlager aber können sie genau das. Sie rangeln, sie rennen, sie schnitzen und lernen wieder, den Wald und die Natur gemeinsam schätzen zu lernen.
Das Einzige was im Zeltlager keine Konstanz hat, sind die Protagonisten. Im Kreis der aktiv am Zeltlager Beteiligten sind nur wenige über 30-Jährige. Das mag daran liegen, dass wir immer genügend junge Mitarbeiter hatten, die wir zur Mitarbeit ermutigt haben. Viele Teilnehmer nehmen sich vor, irgendwann Zeltchef zu sein, oder sogar "Fürst" zu werden. Klar hat mich dieses Fieber auch irgendwann mal gepackt. Zumal die meisten Freunde ebenfalls immer mitfuhren. Manche blieben eben dabei, andere zogen es über die Jahre hinweg vor, im Sommer woanders hinzureisen. Studium, Umzug, Ausbildung und Arbeit hielten und halten vom Mitfahren ab. Einige kommen noch als nächtliche Überfäller. Auch ich merkte nach gut zehn Jahren Mitarbeit, dass die ganze Sache von jüngeren Mitarbeitern mit mehr Engagement vorangetrieben wurde. Das Gefühl des Überflüssigseins machte sich breit - also gab ich die aktive Mitarbeit auf. Der Wechsel von Zeltchefs, Lagerleitung und Küchendamen ist eben eine Konstante. Doch komplett loszulassen fällt mir auch jetzt noch schwer.
Und deswegen komme ich gerne zurück, um wieder am Lagerleben teilzuhaben, wenigstens für kurze Zeit. Viele der Mitarbeiter habe ich schon länger nicht mehr gesehen, manche kenne ich kaum. Doch kaum sitzt man mit ihnen zusammen, fühlt man sich um Jahre zurückversetzt. Die Gespräche drehen sich rund um das Lager, um Problemkinder, um den Tagesablauf, um das Essen. Abends prasseln dann die Holzscheite in der Glut, Funken stieben gen Himmel. Aus tiefster Kehle brüllen die Jungs die "Hukalele". Dann starren wir in die Flammen, fasziniert ob des variierenden Farbenspiels, jahrtausendealte Erinnerungen lodern unterbewusst auf. Stundenlang könnte ich schweigend in das züngelnde Flackern schauen. Das Feuer brachte uns die Zivilisation, nun bringt es uns Kontemplation und das Gefühl von gemeinschaftlichem Erleben über Generationen hinweg. Es ist ein Heimkommen in besonderer Form.
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