Der Sand singt zu mir. Erst nur ganz leise, aber beständig. Doch je schneller der Sand die steile Düne hinabsickert - in meine Schuhe, in meine Socken - desto lauter wird er. Ein richtiges Lied mit Ohrwurmcharakter ist es aber nicht, mehr ein vielstimmiges Rauschen. Vielleicht ist es auch das Rieseln, das wie eine an- und abschwellende Melodie klingt und gemeinsam mit dem Wind ein Orchester bildet. Dazu kommt noch das Pumpen des Blutes, dass ich in meinem Kopf höre. Denn ich bin ganz schön außer Atem. Hier auf der längsten Düne der Welt, der Khongoryn Els, scheinbar ein Scherz Gottes. Das Gebilde sieht einfach aus wie eine lange gelb-orangene Sandlinie, über 100 Kilometer lang, an manchen Stellen nur drei Kilometer breit. Fast wie ein leuchtendes Absperrband vor den dunklen Bergen des Altai-Gebirges.
Und ich habe mir in den Kopf gesetzt, auf einen der Dünenbergen zu marschieren. Kann ja eigentlich nicht so schwer sein, habe ich mir vorher gedacht. Schließlich war das in Namibia auch eher ein Spaziergang. Doch das Problem hier: der Sand von Khongoryn Els ist gemein. Zwei Schritte nach oben zu hüpfen, bedeutet anderthalb Schritte zurückrutschen. Eine schlüpfrige Angelegenheit. Was also ein kleiner Ausflug werden sollte, entpuppt sich als Gewaltmarsch in Richtung Himmel. Dieser zeichnet sich scharf und glänzend blau über dem Dünenkamm ab. Vielleicht 200 Meter hoch ist die Sandwand vor mir, doch irgendwie muss ich gefühlte 20 Kilometer steil bergauf, um zur Spitze zu gelangen. Der Sand fließt mir mit jedem Schritt entgegen wie ein Wasserfall, rutscht unaufhaltsam weiter, und verwischt jede Spur. Einer Legende nach soll der Sand hier von den vergangenen Heldentaten der Mongolen singen. Heute macht er sich eher über meinen Aufstieg lustig.
Ich bin neidisch auf den kleinen Schwarzkäfer, der sich auf einmal zwischen meinen Füßen tummelt. Er bewegt seine Beinchen so flink, dass er ohne Probleme über den Sand trippelt und an mir vorbeizieht. Auf allen Vieren geht es bei mir auch nicht schneller voran, mit breiten ausladenden Schritten, den Oberkörper nach vorne gebeugt, scheint es noch am ehesten zu gehen. Dennoch muss ich alle paar Schritte stehen bleiben, die Füße aus dem Sand ziehen, ab und zu einen Schluck Wasser trinken. Doch der Kamm kommt näher, der Ehrgeiz siegt, und nach ein paar weiteren immer steiler werdenden Metern ist das Ziel erreicht.
Kaum bin ich oben, treibt mir der Wind auch schon die Sandpartikel in alle Poren. Die Spuren meines Aufstiegs am Hang unter mir sind schon lange vom singenden Sand verwischt. Die Kante am Dünengipfel ist so scharf gezeichnet, als hätte ein Architekt das Geodreieck angelegt. Ich setze mich hin, zerstöre damit für einen kurzen Moment den makellosen Kamm. Der unter mir herabströmende Sand zischelt scheinbar erbost, wie eine aufgeschreckte Schlange, beruhigt sich aber genauso schnell, wie das Pumpen des Blutes in meinem Kopf nachlässt.
Der Ausblick ist gigantisch: Auf der einen Seite die flache Wüste Gobi, ein paar Kamele und Jurten am Horizont. Zwischen den dornenartigen Gewächsen wuseln Käfer und Insekten. Ein großer Hase springt herum. Auf der anderen Seite die dunklen Berge des Altai, die irgendwo in Russland beginnen und sich bis nach China ziehen. Dazwischen stehe ich auf dieser grandiosen Sandlinie, mit sich ständig verändernden Gipfeln und Schluchten. Über mir ziehen gewaltige Wolken - noch sind sie grau und weiß, im Laufe des Nachmittags färben sie sich blau, lila, rot und rosa. Ein märchenhaftes Farbenspiel. Und irgendwo unter mir beginnt wieder das Konzert des singenden Sandes.
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