Nimm dir am besten einen Stuhl mit. Und einen Hut, wegen der Sonne. Wasser oder Coca-Tee sollte auch nicht fehlen, schließlich bleibst du mit Sicherheit länger am Cruz del Condor, als du ursprünglich geplant hast. Und wenn du schließlich da bist, dann denk dran: Neben dir geht es über tausend Meter steil nach unten. Mach keinen falschen Schritt. Denn dein Kopf wird sich immer drehen, wird immer gespannt dorthin blicken, wo als nächstes einer der riesigen Anden-Kondore auftauchen könnte. Du drehst deinen Kopf bis dir schwindlig wird. Nach oben, nach unten, nach links und rechts. Vielleicht kommt gleich einer dieser Geier hinter dem nächsten Felsen hervor geflogen.
Du stehst oder sitzt also am sonnigen Morgen direkt an dieser Schlucht, am Colca-Canyon in Peru, vor diesem grandiosen Hintergrund. Steile Felswände, tief eingeschnitten, spärlich bewachsen. Gewaltige Kräfte haben diese Gipfel geschaffen, ein Fluss sich dann hindurch gekämpft. An den Hängen auf der gegenüberliegenden Seite kannst du kleine Dörfer sehen, jeweils mit mindestens einer Kirche darin, und rund um die Ortschaften terrassenartig angelegte Felder. Am Horizont noch ein paar Schnee-bedeckte Gipfel. Du stehst da und schaust beeindruckt auf die uralten Steine, von Wind, Wetter, Wasser und Erosion malträtiert. Diese einzigartige Bergwelt ist optimal für die riesigen Neuweltgeier.
Und dann hat der Kondor seinen großen Auftritt. Unvermittelt platzt er vor hervor, die Nester müssen irgendwo unter dir in der Steilwand sein. Majestätisch nutzt der Riesenvogel die Thermik. Alles um dich herum ist still, du hörst nur den Wind, der durch die Schlucht pfeift, und von den Schwingen des Kondors unterbrochen wird. Schwuuuuuh - so klingt das Pfeifen in deinen Ohren. Mit einer Flügelspannweite von über drei Metern brettert er knapp über die Felsen. Er muss gar nicht viel dafür tun. Nur selten sieht man einen Flügelschlag, er schwebt einfach so an dir vorbei, gnadenlos elegant, aber in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Die weiße Halskrause hebt sich deutlich vom schwarzen Gefieder ab. Schlagartig stürzt der mächtige Raubvogel dutzende Meter in die Tiefe, steigt dann wieder steil auf, nur um mit ein paar weiteren Kondoren eine magische Ballet-Vorstellung darzubieten. Abwechselnd landen sie auf einem Felsen, mit ein paar kurzen schnellen Flügelschlägen, dann blicken sie den Canyon hinab, starten wieder, indem sie sich mit einem eleganten Kopfsprung in die Schlucht stürzen.
Früher oder später hörst du einen der Beobachter pfeifen. "El condor pasa" - einfach weil es sich so gehört, hier wo der seltene fliegende Götterbote sein Zuhause hat. Dieses Lied, so verträumt, so merkwürdig pulsierend, setzt sich wie ein Ohrwurm in deinem Kopf fest. Doch du kannst die Freiheit des Vogels kaum erahnen, nur sein Kreisen verfolgen. Das Lied verstummt wieder, den Kondor selbst kümmert es nicht, er blickt mit seinen durchdringenden Augen mal in die Ferne, mal in die Tiefe. Dich scheint er gar nicht wahrzunehmen, selbst wenn seine Augen dich für einen kurzen Moment streifen - Menschen tummeln sich hier fast jeden Morgen. Und für eine Mahlzeit bist zu eh zu groß.
Ein paar Jungvögel, erkennbar am noch grau-braunen Gefieder, kreisen umeinander, bieten eine fast kämpferische Darstellung. Mittlerweile sind es ein knappes Dutzend Kondore, die sich hier am Felsen treffen, die immer wieder losfliegen, durch die Schlucht gleiten, sogar über deinen Kopf hinweg. Und du kannst nicht anders, als ihnen hinterzuschauen, so elegant, so hypnotisch schweben sie vorbei, immer in anderen Kreisen, in anderen Formationen. Erst wenn sich die Aufwinde durch die immer stärkere werdende Sonne ändern, zieht sich der Vogel in andere Höhenlagen zurück. Doch bis dahin vergisst du die Zeit und träumst davon, einmal selbst wie ein Kondor durch die Schlucht zu schweben. Losgelöst vom Boden, befreit von Ängsten und Sorgen, einfach nur vom Wind bestimmt.
Besucht im Sommer 2014.
-----
Weitere tolle Texte über Peru:
-----
Nix verpassen? Lust zu einem Kommentar? Follow me here:
Facebook
Instagram
Twitter