Ich stapfe durch eine Masse aus Glasscherben, Verpackungsmüll, Bonbons und Alkohol. Es riecht nach Urin, teilweise haben sich daraus richtige Pfützen gebildet, hier an der Großen Langgasse. Und rings um mich herum torkeln singende Menschen in die eine oder andere Richtung. Oder einfach im Kreis herum. Manche sitzen auch auf dem Boden, den Kopf nach vorne geneigt, irgendwo zwischen Suff, Trance und Tiefschlaf. Sie alle tragen bunte Kostüme, der eine ist ein Tiger, die andere eine Teufelin. Es ist Rosenmontag in Mainz. Und wer nicht be- oder zumindest angetrunken ist, wird nach dem offiziellen Zug hier nur wenig Spaß haben.
Ein paar Jahre lang habe ich den Rosenmontagszug gemieden wie mit Senf gefüllte Kräppel. Meine jugendliche Sturm-und-Drang-und-Gröhlphase war irgendwie vorüber. Lieber bin ich auf die Arbeit gegangen, habe den Kollegen-armen Tag genossen und nur ab und zu mal nach dem Wagenzug im Fernsehen geschaut. Ich hatte die Schnauze voll von Fastnacht, vom Rumstehen bei Eiseskälte, von vollen Strassen und Zügen. Viele Freunde allerdings trafen sich weiterhin am Rosenmontag zum gemeinschaftlichen Exzess an der Weinflasche, unter dem kulturell begünstigten Banner der Vorbereitung auf die Fastenzeit. Feier-Anfragen von ihnen begegnete ich eben mit der Aussage: "Aja, einer muss doch schaffe."
Dieses Jahr also starte ich wieder einen neuer Versuch. Und es geht nicht ohne Vorglühen. Entweder mit Bier oder mit einem (oder zwei) Schoppen, im komplett überfüllten Zug oder eben bei Freunden, die zufälligerweise in Mainz wohnen. Der Weg in die Stadt wird dank der vollen Straßen und Menschen zum ersten karnevalistischen Härtetest. Die Taschen mit Fleischwurst, Brötchen oder Kräppeln gefüllt, Bier, Wein und Mixgetränke immer dabei. So wird Fastnacht gefeiert. Irgendwie tun mir die Menschen leid, die mit der Familie einen netten Tag verbringen wollen. Denn die Alkoholiker und Aggressionen sind nicht zu übersehen. Bloß niemanden im Gedränge zu heftig anrempeln, bloß niemandem den Platz an vorderster Front zum Zug wegnehmen. Und wenn etwas Begehrenswertes von den Wagen geworfen wird, sollte man nicht zu egoistisch nach vorne preschen - selbst um einen Küchenlappen kann ein Streit ausbrechen. Ich lasse gerne anderen den Vortritt.
Alkohol gibt es überall. Kaputte Flaschen, weggeworfene Schnaps-Klopfer, leere Plastikbecher säumen den Weg. Junge Frauen müssen sich gegenseitig stützen. Eine sitzt weinend an einer Hauswand, eine andere knutscht mit ihrem Kerl in einem Hauseingang. Ein Gruppe unverkleideter Halbstarker pöbelt herum, einer von ihnen greift nach einer am Straßenrand abgestellten Sektflaschen und droht mit vorgeschobenem Unterkiefer damit. Seine Freunde beruhigen ihn, ziehen ihn beiseite. Die nächsten Polizisten stehen 300 Meter entfernt. Man sieht, was man sehen will. Und am Rosenmontag kann man alles sehen.
Vom Umzug selbst bekomme ich nur vereinzelt etwas mit, zu viele Leute stehen vor mir. Die Motivwagen kenne ich auch eh schon aus der Zeitung, die anderen Wagen und Fußgruppen strahlen nur gelegentlich Faszination aus. Ich bin eigentlich mit anderen Dingen beschäftigt. Ich unterhalte mich mit Freunden, stoße mit ihnen an, ich suche andere Freunde irgendwo in der Menschenmasse, die eine Handy-Nachricht geschrieben haben, ich suche einen Platz zum Pinkeln. Damit vergehen die Stunden unglaublich schnell. Ich sehe viele fröhliche Menschen, die ausgelassen feiern, Kinder, die sich über jedes Bonbon wirklich freuen. Das stimmt mich zuversichtlich. Auch bei mir kommt der Spaß nicht zu kurz. Wenn der Umzug schließlich vorbei ist, beginnen das Aufräumen, das Weiterfeiern und Pöbeln. Die riesigen Kehrmaschinen entfernen schon Mal den gröbsten Dreck, ein paar Straßenverkehrer kämpfen gegen die Müllmassen an. Währenddessen herrscht am Schillerplatz bei lauter Musik ein riesiges Gedränge, die Fastnachts-Hits dröhnen in den Ohren und Kehlen.
Irgendwann am Abend reicht dann der kulturelle Exzess. Mitgebrachtes Bier und Schoppe sind leer. Magen und Blase sind voll. Der Kopf auch mit Eindrücken zwischen Euphorie und Mattheit. Die Kälte wurde bislang erfolgreich ignoriert. Der Weg zum Bahnhof ist weit. Aber irgendwie schaffe ich es in den Zug, nach Hause. auf das Sofa. Die Füße schmerzen. Und ich stelle mir die Frage, ob ich etwas verpasst hätte, wenn ich, wie in den vergangenen Jahren auch, einfach heute gearbeitet hätte. Der Rosenmontagsumzug in Mainz ist eine merkwürdige Veranstaltung.