Ein Urschrei. Wer ihn das erste Mal hört, bekommt es mit der Angst zu tun. Vor allem, wenn der albtraumhafte Schrei plötzlich dicht über einem ertönt, in den Bäumen - und man auf den ersten Blick den Verursacher nicht kennt. Durch Mark und Bein geht dieser tiefe Laut, dann ertönen weitere aus anderen Richtungen. Schließlich raschelt es, dunkle Schatte huschen auf den Ästen hin und her, ein grollendes Konzert schwillt an. Und die Brüllaffen toben solange im Grün der hohen Bäume über mir, bis ich weitergegangen bin. Bisher kannte ich ihr Gelärme nur aus weiterer Entfernung, aus dem Dschungel Venezuelas und Costa Ricas. Hier, in Tikal, sind sie nun fast über mir, huschen mit ihren flinken Händen und Greifschwänzen umher. Und ihr Brüllen lässt mich erschauern, so wild und urtümlich klingt es, etwas nach Löwe, ein bisschen nach Chewbacca und Jurassic Park. Und doch ist es ein wunderbarer Bestandteil des Dschungels hier in Tikal, im kaum besiedelten Norden von Guatemala.
Einst stand hier eine Metropole der Maya, eine blühende Stadt voller Menschen und ein zentraler Handelsknoten. Die ältesten Bauten entstanden schon vor über 2500 Jahren - bis ins 6. Jahrhundert nach Christus schwang sich Tikal zu wahrer Größe auf und wurde eine der bedeutendsten Städte der Maya-Kultur. Manche sagen, hier lebten 50.000 Menschen, andere sprechen von bis zu einer Million Bewohner in der Region. Einige der "Wolkenkratzertempel", die sich heute durch die Spitze des dichten Dschungelhimmels erheben, waren bis zum 19. Jahrhundert die höchsten Gebäude der "Neuen Welt". Um das Jahr 900 dann der Niedergang dieser Kultur - niemand weiß genau warum. Vielleicht waren die Ressourcen verbraucht, vielleicht Krankheit, Dürre oder Krieg. Die Menschen verließen Tikal und der Dschungel kroch wieder über die Paläste und Pyramiden, bedeckte den einstigen Prunk mit Erdreich und Pflanzen. Die Wildnis kehrte zurück.
Tikal ist auch heute nicht so ganz einfach zu erreichen. Die nächste größere Stadt ist Flores - und die ist gut 60 Kilometer von diesem Unesco-Weltkulturerbe und Weltnaturerbe entfernt. Nach dem Frühstück im Hotel dort hatte ich mich auf den Weg gemacht, war mit dem Bus hierher gefahren, wand mir meinen Weg durch die Souvenirläden und hinein in den gut bewachten und ausgeschilderten Dschungel. Überlaufen von Touristen ist Tikal, das einst größte Zeremonialzentrum der Maya-Kultur, noch nicht - Mexiko mit Chichen Itza ist beliebter, voller und nicht ganz so abgeschieden wie das Petén-Gebiet im Norden Guatemalas. Die verschlungenen Wege zwischen den einzelnen Tempelkomplexen in Tikal sind recht weit, der Baumbestand dicht - und die Tierwelt laut.
Eigentlich hieß Tikal gar nicht so, sondern wohl Yax Mutal. Irgendwer gab dem Areal später dann den Namen "Ti ak' al", das "Place of Voice" bedeutet, erklärt mir ein Guide. Denn nicht nur das Brüllen der Affen ist hier laut, sondern auch das Rascheln der Blätter, das Gewusel der Nasenbären, die Töne der Vögel. Hier hämmert ein Specht gegen einen Baum, dort krächzt ein Tukan und nebenan fiept ein Papagei. Vor meinen Füßen muss ich auf die Blattschneideameisen aufpassen. Die Tierwelt ist riesig, selbst am Tag begegnet einem immer wieder ein kurioser Vogel, eine Echse oder ein anderer putziger Waldbewohner. Einen Fluss allerdings gibt es nicht - womöglich war auch dies einer der Gründe, warum Tikal verlassen wurde.
Die schönste (und bekannteste) Sicht auf die Nordakropolis gibt es von Tempel 2, doch dafür muss ich erst eine steile und wacklige Holztreppe hinauf. Pyramiden, Tempel, Stelen - viele schöne alte Steine liegen hier zu meinen Füßen. Tikal kommt mir vor wie ein riesiger Abenteuerspielplatz - wer den Frevel begehen würde, hier Räuber und Gendarm oder Paintball zu spielen, hätte mit Sicherheit viel Spaß, aber entsprechend noch viel mehr Ärger am Hals. Da genieße ich doch lieber die großartige Aussicht: Denn mein Highlight ist eben diese von der Spitze von Tempel 4 - der spektakuläre Blick auf die Landschaft stand schon in "Star Wars IV" Pate für den Waldplaneten Yavin IV. Seitdem ich das erste Mal die filmische Ankunft des Millennium Falcon auf dem Waldplaneten sah, wollte ich Tikal besuchen. Die weißen Spitzen der anderen Tempel ragen hier wir Felsen aus dem dichten Regenwalddach - und der Begriff "versunkene Welt" bekommt eine ganz neue Bedeutung. Passenderweise gibt es einige Meter weiter eine Tempelgruppe mit dem Namen "Mundo Perdido" und der "Lost World"-Pyramide. Auch diese erklimme ich über eine steile Holztreppe - ich will ja möglichst viel sehen. Weiter geht es durch den Urwald zum Platz der Sieben Tempel, vorbei an einstigen Ballplätzen und weiter zur "Gruppe G", dem letzten Abschnitt meiner Besichtigung.
Am "Palacio de las Acanaladuras" komme ich mir ein bisschen wie in "Tomb Raider" vor, mit den von wurzeligen Bäumen überwucherten Gebäuden. Vorher, am Platz der Sieben Tempel, fühlte ich mich wie Indiana Jones, der sich in einer dunklen Kammer das Goldene Idol schnappen will. Und auf Tempel 4 sehe ich mich als ein Teil von "Star Wars". Tikal ist die perfekte Filmkulisse für das Geheimnisvolle, Unheimliche und Verborgene. Die versunkene Stadt im Dschungel scheint zu unwirklich, nur um dann doch wahrhaftig vor mir zu sein. Spätestens, wenn der nächste Brüllaffe seinen durch Mark und Bein dringenden Urschrei hinaus ruft, bin ich mir der wilden Realität bewusst. Und schlendere weiter durch diesen faszinierenden, 1000 Jahre alten Wald, der leer von Menschen, aber voller Tiere ist.
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