Von Giganten und Meerjungfrauen: Am St. Michaels Mount in Cornwall

20.02.2020 10:56
Am St. Michaels Mount in Cornwall, England. Foto: WanderWithWolf.com
 
Klopft das Herz des Giganten gerade so laut? Oder verwechsle ich es mit meinem eigenen, das hier pocht, nach einem kurzen, aber steilen Anstieg? Ich stehe etwa in der Mitte des Fußwegs hoch zum Schlösschen auf dem St. Michaels Mount, einer kleinen Insel vor der Küste Cornwalls. Und blicke auf ein Schild mit der Aufschrift "The Giant's Heart". Doch wo ist das Herz des legendären Riesen Cormoran nun? Ist es der große Fels hinter dem Schild? Oder ist es verborgen im Gebüsch? Vielleicht muss ich nur genauer hinhören...  
 
Am St. Michaels Mount in Cornwall, England. Foto: WanderWithWolf.com
 
Doch beginnen wir von vorne: Grau in Grau zeigen sich Meer und Himmel über Cornwall am späten Morgen. Ich bin von meiner Unterkunft in Helston die paar Kilometer westlich in Richtung Penzance gefahren, dann am Kreisel in Richtung Marazion. Und schon nach wenigen Metern sehe ich den riesigen Parkplatz an der Küste und davor, ein paar Hundert Meter draußen im Meer, den St. Michaels Mount aufragen. Also zumindest sehe ich eine dunkle Insel im Meer mit schattigen Gebäuden drauf - denn Sonne und Licht stehen um diese Zeit ungünstig fürs Schauen und für Fotos. Doch trotz des Gegenlichts und der Entfernung wirkt der Mount wie ein Platz aus einem Märchen, ein Gebilde aus einer fantastischen Welt.
 
Am St. Michaels Mount in Cornwall, England. Foto: WanderWithWolf.com
 

Ist es ein Schloss, eine Abtei oder ein Hafen? Oder alles auf einmal? Unweigerlich denke ich an Lummerland, an Disney und Fluch der Karibik. Und an kitschige Cornwall-Romantik nach Rosamunde Pilcher. Legenden sprechen vom Heiligen Sankt Michael, der Schiffer vor den schroffen Felsen und den lieblichen Meerjungfrauen bewahrte, vom Riesen Cormoran, der die Insel aufgeschüttet haben soll, dann Rinder und Kinder fraß, bis er vom Helden Jack auf der Insel in eine Grube gelockt und schließlich getötet wurde. Und von seinem Herz, dessen Schlag man immer noch dort spüren könne. Doch die Fakten sind weniger mythisch: Ganz früher soll hier mit Zinn gehandelt worden sein, ein Grund für den Reichtum Cornwalls. Dann kamen Christen und aus einem kleinen Kloster wurde eine größere Abtei. Aus der Abtei wurde eine Festung, aus der Festung ein Schloss - und daraus nun das Wahrzeichen von Cornwall. Nicht zu verwechseln natürlich mit dem Mont Saint-Michel in Frankreich, der wuchtigeren und berühmteren Schwester-Abtei. Gleich ist den beiden allerdings die heutige Einwohnerzahl: Während gut 200 Jahren auf der kleinen Insel im südwestlichen Zipfel Englands über 200 Menschen in einem kleinen Dorf lebten, sind es heute nur etwa 30 - und damit so viele wie aktuell in der französischen Anlage.  

Am St. Michaels Mount in Cornwall, England. Foto: WanderWithWolf.com
 
Noch ist es Flut, als ich mein Auto parke und durch die fast leeren Straßen von Marazion schlendere. Langsam kämpft sich die Sonne durch die Wolken. Der kleine Damm zwischen dem Städtchen und St. Michaels Mount, über den man bei Ebbe zu Fuß rüberlaufen kann, ist vom Wasser überspült - ergo kann ich die Insel nur per Schiff erreichen. Zum Schwimmen ist das Wasser zu kalt. Aber kein Problem, am Anleger stehen schon die Schiffer mit ihren Booten bereit, die einen in wenigen Minuten (und für zwei Pfund) die paar hundert Meter herüber bringen. Angekommen geht es ein paar Stufen hoch auf die Kaimauer - und dann ist Staunen und Fotografieren angesagt. Vor mir liegt erst der kleine Hafen mit ein paar Booten drin, dahinter stehen ein paar typische englische Häuschen mit den markanten Schornsteinen. Rechts davon das frühere Bootslager, in dem heute Museum und Kassenhäuschen sind. Dann, fast wie perfekt aufgeschüttet, der grüne Hügel mit dem stolzen Schlösschen drauf. 
 
Am St. Michaels Mount in Cornwall, England. Foto: WanderWithWolf.com
 
Ich marschiere den etwa 60 Meter hohen Berg aufwärts, über Kopfsteinpflaster und durch üppiges Grün, bis ich das bereits erwähnte Schild mit der Aufschrift finde. Spoiler: Das Herz des Giganten entpuppt sich schnell (und wenig mystisch) als ein kleiner herzförmiger Stein, inmitten des gepflasterten Weges. Ich gehe weiter bis zum Fels-übersäten Aufgang des Schlosses. Darin spukt kein Geist - die Räume sind eine kuriose Mischung aus waffenstrotzender Burg, pompösem Familienheim und andächtiger Abtei. Tausende Menschen haben hier schon verweilt, darunter Queen Victoria - alle unter den wachsamen Augen der Familie St. Aubyn, die seit ungefähr 1650 hier wohnt und (mittlerweile gemeinsam mit dem National Trust) sich um den Erhalt der Insel kümmert. Der Blick von der Terrasse auf der Nordseite schweift über Marazion, die cornische Küste und bis hinaus aufs Meer. Mit wenigen Verrenkungen des Halses sehe ich am Fuße des Berges auf der Südseite den fast tropischen Garten, terrassiert und verschlungen wie ein Labyrinth. Immer wieder frage ich mich bei solchen Besichtigungen, wie es wohl wäre, hier zu leben: Mal kurz Einkaufen gehen ist bei Flut nicht möglich, in höherem Alter die ganzen Treppen zu bewältigen eine Qual. Dazu der fast immer präsente Wind, der durch die alten Fenster zieht. Aber dafür wäre man Herr einer Burg in einer einmalig fantastischen Lage... Und es gibt immerhin einen kleinen Versorgungstunnel vom Festland hierher, durch den über schmale Schienen in kleinen Behältern Waren transportiert werden können. 
 
Am St. Michaels Mount in Cornwall, England. Foto: WanderWithWolf.com
 
Wieder unten am Fuße des Bergs angelangt, schaue ich mir die alte Kapelle und den Friedhof an, laufe auch ein paar Meter in den Garten herein. Dann gehe ich in die Shopping-Läden und zum Portal, hinter dem der Damm beginnt. Doch noch immer ist das Wasser zu hoch, um darüber zu laufen. Bei stürmischem Wetter soll es gar unmöglich sein, überhaupt von Marazion zur Insel und umgekehrt zu kommen. Ich erfahre noch weitere Legenden, die über den Mount erzählt werden, darunter auch die der magischen Ley-Linien, die sich im Herzen des Berges kreuzen sollen. An spirituellen, verrückten und skurrilen Ideen fehlt es in Cornwall nicht - und an diesem Vormittag, an diesem kuriosen Ort, kann ich solche Dinge mit einem Kopfnicken akzeptieren. Genauso wie Giganten und Meerjungfrauen, die vielleicht nicht mehr sichtbar, aber zumindest in den Geschichten und Herzen der Menschen hier überdauern.  
 
Am St. Michaels Mount in Cornwall, England. Foto: WanderWithWolf.com

 

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