Von Zwergen und Protestlern: Unterwegs in Breslau
14.12.2021 11:48
Der erste Zwerg begegnet mir am Oder-Ufer. Er sitzt auf einem kleinen Kipplaster, im Anhänger ein paar Rosen. Hinter ihm mäandert der Fluss, am anderen Ufer stechen der Dom und die Fürstbischöfliche Residenz hervor. Der Zwerg grinst und lässt mich gleich aufatmen. Ich hatte nämlich schon die Befürchtung, dass ich die ganzen kleinen Bronzefiguren übersehe. Natürlich habe ich schon einiges von den berühmten Breslauer Zwergen (hier "Krasnale" genannt) gelesen, die hier in der ganzen Stadt verteilt stehen. Aber ich hatte mich bewusst dagegen entschieden, mich schon im Vorfeld über irgendwelche Standorte der Winzlinge zu informieren. Ich wollte mich überraschen lassen und hoffte natürlich, bei meinem Stadtrundgang zufällig auf einige zu stoßen.
Es ist November, das Wetter ist frisch und bewölkt, ziemlich trüb eigentlich. Das perfekte Grau, um faul im Hotelzimmer rumzulungern - aber nix da. Am Vorabend bin ich in Breslau angekommen, habe mich durch den Verkehr der Stadt bis zum Hotel gekämpft und dann auch nicht mehr viel gemacht. Schließlich war ich platt vom Fahren, von Görlitz aus über drei Stunden hierher, auf dem Weg durch Schlesien noch diverse Sehenswürdigkeiten abgehakt. Jetzt also Breslau, die Stadt, aus der einige meiner Vorfahren kommen. Das trübe Wetter ist dann auch kein Grund, nicht durch die Stadt zu schlendern, die sich seit der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg nun wieder in prachtvollen Glanz zeigt.
Wieso es in Breslau so viele kleine Zwerge gibt, ist schnell erklärt: In den 1980ern waren sie ein Symbol des Widerstands gegen die Kommunistische Partei. Protestler der Oppositionsbewegung „Orange Alternative“ trugen orangefarbene Kappen, die an Zwergenmützen erinnerten. Graffiti zeigten Zwerge, die mit ihrem spielerisch-listigen Charme gegen das Regime protestierten - und irgendwann stand der erste kleine bronzene Zwerg dann in der Stadt, natürlich der "Papa Zwerg". Und seitdem sind hunderte dazu gekommen, dank Künstlern und Studenten, dank Sponsoren und Fans. Heute sind die "Krasnale" Maskottchen und natürlich auch Werbeträger, mit eigenen Büchern und eigenen Internetseiten.
Auf meinem Weg durch die Stadt fallen sie mir immer wieder auf: Ein lesender Zwerg vor einer Buchhandlung, ein trinkender Zwerg vor dem leider derzeit geschlossenen Schweidnitzer Keller, ein Eis-leckender Zwerg an einer Eisdiele - und so weiter. Nicht alle "Krasnale" wollen zum Einkaufen animieren, einige regen auch zum Nachdenken an: ein blinder Zwerg mit Stock, ein Zwerg im Rollstuhl, oder die beiden Zwerge, die Sisyphos-gleich einen verhältnismäßig großen Stein ins Rollen bringen wollen. Dennoch sind sie nur ein nettes "Schmankerl" auf meiner Besichtigungstour: Ich laufe vom Oder-Ufer rüber zum Dom, zurück und weiter zur Universität mit den prachtvollen Sälen und der Aussicht vom Dach auf die ganze Stadt. Dann geht es auf den beeindruckenden Marktplatz Rynek, mit den vielen bunten Häusern und dem schönen Rathaus mit dem 66 Meter hohen Uhrturm.
Ich biege ab auf die Swidnicka, wo "Papa Zwerg" steht - und wo viele der politischen Proteste in den 1980ern stattfanden. Etwas weiter geht es zur Oper, dann zum Stadtgraben Fosa Miejska - und am Konzerthaus biege ich wieder ab in Richtung Rynek und von dort zum Hotel an der Galeria Dominikanska. Gut sechs bis sieben Kilometer zu Fuß, ein netter Spaziergang - und schon habe ich prinzipiell die wichtigsten Teile von Breslau gemütlich an einem Mittag abgelaufen, natürlich nicht, ohne in den einen oder anderen Laden gegangen oder diverse Kirchen angeschaut zu haben.
Am Ende meines Spaziergangs habe ich vielleicht 30 Zwerge wahrgenommen - und mit Sicherheit sehr viele übersehen. Halb so wild, vielleicht komme ich ja in ein paar Jahren und schaue nochmal genauer hin. Bis dahin hat das kleine Volk mit Sicherheit auch wieder Zuwachs bekommen. Am Abend klappere ich nochmal das Oder-Ufer ab, bewundere die schöne Beleuchtung an Universität und Rynek und bin dann doch erstaunt, dass auch im trüben November - abends und unter der Woche - so viel los ist. Die Zwerge wird es freuen.
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