Winzerfest in Nierstein - Ausnahmezustand für Weinfreunde
10.08.2016 11:41Irgendwie ist es immer zu schnell vorbei. Denn das Niersteiner Winzerfest ist Heimspiel für mich. 200 Meter von der Haustür aus - und schon bin ich mitten drin. Da, wo Wein zelebriert wird - vier Tage lang Ausnahmezustand für alle Freunde des Rebensaftes. Und mit die besten vier Tage des Jahres für einen Niersteiner. Hier sehe ich Freunde des Alltags und Menschen, die ich seit dem letzten Winzerfest nicht mehr gesehen habe, teils auch schon Jahre nicht mehr. Ich sehe viele fremde Gesichter, ich sehe Politiker, Angestellte, Studenten und Schüler, Niersteiner, Rheinhessen und Auswärtige. Tausende tummeln sich in den Gassen der "Riesling City". Bei manchen Winzern und Freunden bleibe ich stehen, wir reden über die Vergangenheit und die Zukunft und trinken dabei den nächsten Riesling, Burgunder oder Chardonnay. Und manchmal sogar einen lieblichen Gewürztraminer oder Kerner, schon um die Geschmacksnerven ans Limit zu bringen.
Jedes Jahr ist neu und anders. Irgendein Stand macht wieder zu, ein anderer vielleicht auf. Manchmal schließt sogar eine ganze Location - in diesem Jahr zum Bedauern der Party-Generation, die sich sonst in einer Halle zu Stimmungsmusik verausgabt hat und sich nun unter freiem Himmel vor den Bassboxen drängt, wie zu viele Sardinen in einer zu kleinen Dose. Auch das einst vor allem bei Kindern beliebte Meerschweinchen-Wettrennen wurde dem Zeitgeist entsprechend schon vor Jahren eingestellt. Doch vieles bleibt beständig auf dem Fest. Die meisten Winzer haben seit Jahren einen Stammplatz. Der Fischladen macht schon seit meiner Kindheit dieselben leckeren Backfische. Und ganz hinten am Rhein ist Autoscooter angesagt - für alle Teenies der Treffpunkt schlechthin. Dann gibt es da auch die große Weinprobe am Winzerfest-Vorabend (hier wurde jahrelang eine neue Niersteiner Weinkönigin gekrönt) und die Weinschöffenzeremonie. Beides große Chancen, um für den Wein und die Stadt zu werben - und natürlich auch ein bisschen für sich selbst.
"Enrischdischgudewoikannnurvunderhoihessesoi" steht auf der Tischdecke. Für Rheinhessen problemlos nuschelbar - für Sachsen und Bayern unverständliches Gerede. Natürlich kann ich dem Spruch zustimmen, so ganz subjektiv betrachtet. Es ist ja auch schon spät am Abend und mein Festglas wurde schon mehrfach mit besagtem Wein aufgefüllt. Der Bass der Musik lässt die hellgelbe Flüssigkeit wabern. Sei es in den einzelnen Höfen, oder fett und laut am Marktplatz - Musik ist fester Bestandteil des Winzerfestes. Rock und Pop, ein paar Oldies, irgendwas zum Mitgrölen eben. Irgendwann tanzt man mit, schunkelt sich die Arme wund oder hüpft auf die Bänke. "Atemlos" brüllen einige junge Leute am Nachbartisch - und hoffen wohl darauf, dass der Titel von den Musikern auf der Bühne gespielt wird. Vergebens, zum Glück.
Am Fronhof nahe der evangelischen Kirche finden sich weit nach Mitternacht die letzten Festbesucher ein. Auch wenn die Weinstände am Marktplatz, am Rhein und in der Rheinstraße schon geschlossen haben, ist hier noch etwas los. Unter der gerade schließenden Ladenklappe werden schnell die übrig gebliebenen Reste auf Gläser gefüllt, bevor das Licht ausgeht. Die letzten Käsespieße und Wurstbeisser werden losgehauen. Betrunkene Jungs flirten mit betrunkenen Mädels, testosterongeladene Idioten suchen Streit oder randalieren, bis die Security auf sie aufmerksam wird. Ein junges Pärchen schwört sich schmachtend die ewige Liebe, doch schon zwei Tage später ist alles vorbei. Ein wenig abseits des Festes, in den dunklen Ecken, riecht es nach Urin und Erbrochenem. Auf einer Straße hat es sich ein Benebelter bequem gemacht und schläft seinen Rausch aus, friedlich schlummert er da, bis er vom Hupen eines Autos geweckt und verscheucht wird - torkelnd hoffentlich den Weg nach Hause findet.
Die Winzer, die Familien und deren Helfer leisten in diesen Tagen Erstaunliches. Mit Sackkarren schieben sie ihren Nachschub an Flaschen und Gläsern durch die enge Menge zu den Ständen, gut gelaunt lassen sie sich auf viele Gespräche ein, erzählen von grandiosen und unglücklichen Jahrgängen, von der aktuellen Ortspolitik, oder von Gerüchten, die gerade in der Stadt die Runde machen. Flott wird eingeschenkt und kassiert - und wenn es mal etwas länger dauert, kann man ja immer noch mit dem ebenfalls Wartenden über die Weinqualität oder Geschmackspräferenzen quatschen. Ohne Winzer kein Winzerfest - auch wenn sich manch einer von ihnen am Schluss der trubeligen Tage kaum noch auf den Beinen halten kann und fast im Stehen einschläft.
Am Ende des Winzerfestes, ein paar Stunden nach dem Feuerwerk, denke ich mir: Ach, ein paar Tage länger wären schon cool. Ein paar Tage länger jeden Abend gemütlich einen Wein am Marktplatz trinken, der Musik zuhören und die vielen Menschen beobachten, die vorbei ziehen. Ein paar Tage mehr Sommer im Freien, mit netten Gesprächen, dem Erfahren von Neuigkeiten. Ein paar Tage vom sorgenfreien Leben, einfach treiben lassen im Gewimmel der Niersteiner Gassen. Wo Menschen zu Freunden werden, wo man gemütlich miteinander feiert, singt und trinkt. Spät in der Nacht sitze ich dann auf dem Fronhof, blicke auf die Niersteiner Fahne vor dem Kirchtor und denke, dass man hier alles Leid der Welt vergessen kann. Zumindest für ein paar glück- und weinselige Stunden.
Das Niersteiner Winzerfest findet immer am ersten Wochenende im August statt.
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