Wo versteckt sich Graf Dracula? Auf seinen Spuren in Rumänien
03.12.2024 12:53
Meine geliebte Freundin,
sei nicht besorgt. Doch ich schreibe Dir diesen Brief, damit Du im Falle meines Verschwindens weißt, was mir in Transsilvanien, dem unheimlichsten Landstrich Rumäniens, grauenerregendes widerfahren ist.
Die Kutsche hatte mich am Mittag in Schässburg (Sighișoara) abgeladen. Endlich, nach langer Fahrt, muss ich dazu sagen. Der Weg von Bukarest war mitunter holprig, einige Straßen über die Ebenen und durch die dunklen Wälder waren schmal und steil. In der Kutsche hatten mich die Mitreisenden misstrauisch beäugt. Denn: Ich trug kein Kreuz bei mir. Nicht um den Hals, nicht an der Tasche. Wusste ich etwa nicht von den Blutsaugern hier, fragte einer der Passagiere? Von den Vampiren, den Häretikern und Hexen? Von den Dämonen und Succuben? Ohne göttlichen Beistand und christliche Symbole gebe es hier im Notfall wohl keine Rettung für mich. Ich zuckte nur mit den Schultern. Ungläubiges Staunen der Anderen über meine vorgebliche Torheit. Doch genau wegen des Unheimlichen war ich hier. Und natürlich nicht unvorbereitet.
Schässburg gilt als Geburtsort von Vlad Tepes. Vlad, der Pfähler, der Schänder, der Blutsauger. Vorbild für Dracula, oder gar er selbst, einst verachtet, mittlerweile offenbar verehrt. Denn heute ist er der Marketing-Hype für Rumänien und insbesondere für Transsilvanien. Bei meiner Ankunft hingen dichte Wolken über der historischen Altstadt. Und kaum hatte ich den Berg zum ummauerten Zentrum von Schässburg erklommen, blickte mich auch schon das Antlitz des Pfählers an. Von T-Shirts, Magneten und Tassen, von Postern, Schürzen und Tellern. Wird hier dem Graf wirklich so unterwürfig gehuldigt? Mir schien es so. Ohne zu zögern betrat ich sein deutlich markiertes Geburtshaus, auf alles Schreckliche vorbereitet. Wie viele Häuser hier war es alt und schief, stand in einer engen Gasse unweit des Stundturms. Die Tür war geöffnet. Kaum hatte ich die erste enge Treppe nach oben erklommen, sah ich auch schon wieder unverhofft ins Antlitz des Schreckensfürsten. Das schmale Gesicht mit dem dünnen Schnurbart, der merkwürdige Helm, die stechenden Augen. Gott sei Dank nur eine Büste. Im angrenzenden Raum hörte ich Schreie. Wurden hier etwa Kriegsgefangene gemartert? Oder Jungfrauen und Kinder gequält? Oder konnte ich Zeuge einer blutrünstigen Vampir-Orgie werden?
Plötzlich öffnete sich die Tür. Blut konnte ich nicht sehen. Dafür strömten mir Alkohol- und Fleischduft entgegen. Die Schreie entpuppte sich nur als Lärm einer Gaststätte, die sich hier befand. Alle Tische waren belegt, es herrschte großer Trubel und ein wahrliches Wirrwarr. War den Menschen hier nicht bewusst, dass sie sich im Haus des Nosferatu höchstselbst befanden? Dass Terror und Schrecken hier entsprangen? Ich ging weiter die Treppe hinauf, an Spinnweben und Kerzenleuchtern vorbei, an alten Spiegeln und einem Klavier. In diesem Raum herrschte Dunkelheit, lediglich ein rotes Licht flackerte. An der Wand hing das Fell eines toten Wolfs. Unheimliche Geräusche ertönten, ein lautes Knarzen, ein leises Geheul. In der Ecke standen zwei Sessel, auf einem saß zusammengesackt eine leblose Frau. Ich näherte mich ihr und sah schnell, dass es doch nur eine große Puppe war. Spielte etwa hier jemand ein grausiges Spiel? Hinter mir lag ein Sarg auf einem Podest. Ich näherte mich neugierig. Hatte ich die Schlafstatt des Blutsaugers entdeckt? Plötzlich öffnete sich der Sargdeckel, eine hässliche, blasse Fratze blickte mich an und mein Herz gefror. Ich hatte Dracula tatsächlich aufgespürt. Schnell zückte ich meine Kamera und drückte ab. Doch der Graf war lebendig, er griff mit seinen Klauen nach mir.
Aber ich war schneller: Der Blitz meiner Kamera löste aus und blendete Dracula. Doch anstatt, dass er zu Staub zerfiel oder sich in eine Fledermaus verwandelte, stieß er einen Fluch aus und riss sich die Maske vom Gesicht. Es war nur ein Schauspieler, der arglose Besucher des Hauses erschreckte. Der Blitz hatte ihn geblendet, jetzt mussten sich seine Augen erholen, bis er die nächsten naiven Schreckenssucher anlocken konnte. Er beruhigte sich schnell, schließlich war ich wohl nicht der erste Vampirjäger, der ihn heute mit einem Blitz geblendet hatte. Dann schickte er mich fort, ich solle noch ein Souvenir kaufen und mich weiter gut in Schässburg amüsieren. Welch Hohn, dachte ich mir. Kopfschüttelnd ging ich hinaus. Aus dem Geburtshaus des Pfählers ist ein Vergnügungstempel geworden, der zwar nicht nach dem Blut der Gäste, dafür aber nach deren Geld giert.
In Schässburg konnte ich Graf Dracula also nicht aufstöbern. Eins zu null für Nosferatu. Ein kleiner Rückschlag, aber nicht das Ende der Suche. Ich nahm wieder eine Kutsche, die mich über Nacht durch die dunklen Wälder Transsilvaniens schließlich nach Törzburg (Bran) brachte. Hier sollte sich Vlad Tepes häufiger aufhalten, hatte ich aus mehreren Quellen gehört.
Der Tag brach an, es war bitterkalt. Langsam lichtete sich der nächtliche Nebel über den dichten Wäldern. Auf einem kleinen Bergsporn sah ich Schloss Bran empor ragen. Die Sonne stand noch hinter den hohen Türmen und warf einen bedrohlichen Schatten auf den Platz, an dem ich die Kutsche verließ. Die Bretterbuden am Rand waren verrammelt und verriegelt. Hatten die Besitzer diesen trostlosen Ort schon verlassen? Oder schliefen sie noch alle, erschöpft vom schweren Mühsal der täglichen Arbeit? Ich stieg den Weg zur Burg hinauf, achtete darauf, nicht zu stolpern und die schroffen Felsen hinabzufallen. Schließlich erreichte ich das Tor. Ein Gargoyle kroch über die Wand und bewachte es, doch mutig und lautlos konnte ich mich unentdeckt an ihm vorbei in das alte Gemäuer schleichen.
Hier war es still. Ich lauschte nach möglichen Geräuschen, nahm aber keinen Laut wahr. Schlief Graf Dracula womöglich unaufmerksam und unbewacht in seinem Sarg? Mein Herz pochte wild. Ich schlich weiter durch die prachtvollen, aber staubigen Räume, strich Spinnweben zur Seite und drang so immer weiter hinauf in die Burg. Eine Gruft im tiefen Fels schien es nicht zu geben. Im Innenhof knarzte der Eimer am Seil über dem tiefen Brunnen vor sich hin. Ich erklomm weitere Stufen. Schließlich erreichte ich das oberste Stockwerk, ein Balkon öffnete den Blick über die beeindruckende Landschaft Transsilvaniens. Die Sonne war mittlerweile weiter am Himmel empor geklommen und tauchte die Weite in ein warmes Licht.
Plötzlich ertönte eine zischende Stimme. "Was wollen sie hier?" Ich drehte mich um und erstarrte. Ein Mann stand vor mir, uralt, blasse Haut, schütteres graues Haar, rot unterlaufene Augen. Er stand im Schatten, sodass ich ihn nur undeutlich ausmachen konnte. "Ich suche Vlad Tepes", erwiderte ich ohne zu zögern. Und fragte nach einem kurzen Moment furchtlos: "Sie sind das nicht zufällig - Graf Dracula, der Pfähler, der Schänder, der Schrecken von Transsilvanien?" Ein schallendes Gelächter ertönte. Der Mann bleckte seine spitzen Zähne - dann nahm er sie lachend heraus. "Keine Angst, junger Mann. Sie kommen zu spät. Über 100 Jahre zu spät. Denn Van Helsing und die Harkers haben ihn damals schon getötet. Mehr als Staub werden sie von ihm nicht finden. Lesen Sie die Aufzeichnungen dazu von Bram Stoker", ergänzte er mit einem Augenzwinkern. Erleichterung machte sich in mir breit - aber auch Enttäuschung. War meine Heldenreise durch Rumänien ganz umsonst? War ich mal wieder zu spät? Oder sollte ich nicht doch lieber froh sein, unbeschadet nach Hause zu kommen? Ich bedankte mich bei dem alten Mann und verließ ernüchtert das Schloss. Die ganzen Treppen hinab, den Bergsporn hinunter, zum Platz, an dem nun einige Geschäfte geöffnet hatten.
Was nun? Ich überlegte nicht lange. Wenn ich Dracula schon nicht mehr erwischen konnte, musste ich mir eben ein weiteres Abenteuer suchen. Ich betrank mich im Dorf und beschloss, am Abend die nächste Kutsche in Richtung Bulgarien zu nehmen. Die Sonne war gerade verschwunden, die Dämmerung brach herein. Kaum war die Kutsche losgefahren, blickte ich noch einmal zurück zu Schloss Bran. Stand da nicht der alte Mann oben auf dem Balkon, eingehüllt in einen schwarzen Umhang? Ich konnte ihn nur schwer erkennen. Als ein Baum kurz meine Sicht verdeckte, sah ich ihn dann auch schon nicht mehr. Doch im nächsten Moment flatterte eine Fledermaus vom Schlossturm in den blutrot leuchtenden Abendhimmel.
(Inspiriert von "Dracula" von Bram Stoker.)
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